LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

LEBENSTHEMEN und SCHLÜSSELBEGRIFFE

Text und Videos von Br. David Steindl-Rast OSB

[Video ab (27:21)]: Bettina Buchholz: «Als wir vor einigen Jahren im Musiktheater Linz unser Stück über die Jüdin Etty Hilesum[1] spielten, die in Auschwitz ermordet wurde, begann ich mich mehr und intensiver mit Spiritualität zu beschäftigen. Etty beschrieb in ihrem Tagebuch ihre, auch für sie gänzlich überraschende, Hinwendung zur Spiritualität ‒ und ja ‒ auch zu Gott.[2]

‹In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen
und darin ist Gott.
Manchmal ist er für mich erreichbar.
Aber oft liegen Steine und Geröll
auf dem Brunnen
und dann ist Gott begraben.
Dann muss er wieder ausgegraben werden.
Mein Heilmittel kenne ich jetzt.
Ich brauche mich nur in einer Ecke
auf dem Boden zu hocken und
zusammengekauert in mich hineinhorchen.
Mit Denken komme ich da nicht weiter.
Denken ist eine schöne und stolze Beschäftigung,
aber aus schwierigen Gemütszuständen
kann man sich nicht ‹herausdenken›.
Dazu muss man anders vorgehen.
Man muss sich passiv verhalten
und horchen.›

Mir ging es da ähnlich wie Etty. Während meiner unzähligen Kontrolluntersuchungen besuchte ich öfter die Krankenhauskapelle. Ich bemerkte, dass in der Stille dieses Raumes mein Stress nachließ und ich langsam ruhiger wurde. Sogar meine Ängste gingen etwas zurück.

(29:34) Etty fand im Gebet eine Quelle der Ruhe, der inneren Freiheit und der Inspiration. Je öfter ich ‹Etty› spielte, desto tiefer drangen ihre Einsichten in mich ein. So etwas hatte ich vorher noch nie empfunden.

‹Und dann Gott.
Ich ‒ Etty, das Mädchen,
das nicht knien konnte
und es dann doch lernte
auf einer rauhen Kokosmatte
in einem unordentlichen Badezimmer.
Aber diese Dinge sind fast
noch intimer als die sexuellen.
Ich knie, die Hände vor dem Gesicht
und spüre: Die einzige Gewissheit,
wie du leben sollst
und was du tun musst,
kann nur aus dem Brunnen aufsteigen,
der aus deiner eigenen Tiefe quillt.
Ich werde durch etwas zu Boden gezwungen,
das stärker ist als ich selbst.
Ich übe mich im Knien.
Ich geniere mich noch zu sehr
wegen dieser Gebärde, die ebenso intim ist
wie die Gebärden der Liebe,
über die man auch nicht sprechen kann,
wenn man kein Dichter ist.›

Auch ich entdeckte, dass das Niederknien eine besondere Wirkung auf mich hatte, mich beruhigte. Das erinnerte mich sehr an Etty:

‹Ich übe mich im Knien.›

Als ich bei einer der nächsten Untersuchungen die Kapelle aufsuchen wollte, war sie versperrt, da sie gerade renoviert wurde. Ich konnte nur von außen durch die Glastür hineinschauen. Aber mir gefiel der plastikverpackte Christus. Zu meiner Überraschung beruhigte mich auch dieser Anblick, als würde mein eigener Stress und meine Angst auch ein Stück weit eingepackt.

(32:52) Wenn du nach einer so krassen Chemo und der anschließenden Stammzellentransplantation wochenlang auf der Isolierstation liegst, dann kannst du kaum mehr noch etwas essen, ohne dich zu übergeben. Du wirst künstlich ernährt. Deine Schleimhäute und dein ganzer Körper tun so weh, als hätte man dich mit Säure verätzt. In dir ist nur Schmerz, Übelkeit und tiefe Erschöpfung.

In dieser absoluten Ohnmacht begann ich zu beten. Ja, ich versuchte wie Etty zu beten.

Natürlich weiß ich, dass das schöne schlichte Wort ‹beten› ziemlich aus der Mode gekommen ist. Ja, dass es sogar seit den unerträglichen Missbrauchsskandalen der Kirche geradezu verpönt ist. Viele Menschen verwenden deshalb heute lieber Bezeichnungen wie meditieren oder in Stille sein.

Ich möchte jedoch beim alten schlichten Wort ‹Beten› bleiben. In meinem Schmerz, in meiner Ohnmacht, in meiner Wut und in meiner Verzweiflung versuchte ich zu beten. Oft war es auch ein Beten jenseits der Worte. Ein Stillwerden angesichts meiner Kraftlosigkeit und Erschöpfung. Auch das erinnerte mich an Etty.

‹Wörter wie Gott, Tod, Leiden und Ewigkeit
muss man wieder vergessen.
Man muss wieder so einfach
und wortlos werden
wie das wachsende Korn
oder der fallende Regen.
Ausschließlich nur noch sein.›

In den sich hinziehenden Nächten auf der Isolierstation erlebte ich das Gebet als etwas sehr Persönliches. Als ein sehr intimes Gespräch mit dem großen Du. Oft fühlte ich mich dann leichter, ruhiger und in manch schwerer Nacht auch ein Stück weit getragen. Aber es kamen auch Zweifel in mir hoch. Und so stellte ich Bruder David die Frage, ob es angesichts des unendlichen Leidens auf dieser Welt überhaupt Sinn macht zu beten?»

(35:48) Bruder David:

«Nichts anderes hat Sinn, als zu beten.
Aber ich würde gerne beten
vielleicht anders ausdrücken
oder zusätzlich noch etwas sagen,
damit es auch Menschen zugänglich wird,
für die beten ein schwieriges Wort ist.
‹Beten› kann man auch
in anderen Worten ausdrücken,
die vielleicht verständlicher und
zugänglicher sind für Menschen,
denen das Wort beten
nicht so richtig passt.
Wir alle kennen das Erlebnis,
dass wir eines Tages in der Früh
besonders freudig aufwachen,
es ist ein schöner Tag, und
unsere eigene Freude schenken wir weiter
an andere. Ganz spontan.
Wir können das aber auch üben
und an Tagen, an denen wir uns
nicht so besonders gut fühlen,
auch bedenken, dass auch heute das Leben
uns einen ganzen Strom
von guten Dingen schenkt,
sonst können wir nicht einmal atmen,
wir können nicht einmal gehen
oder sehen oder hören.
Es sind alles Geschenke des Lebens.
Und bewusst dieses Geschenk weiterschenken.
Und das ist Segnung.
Der
Segen, den kann man sich vorstellen
wie den Blutstrom des Universums.
Er fließt durch uns durch.
Wir können ihn weitergeben.
Und wenn man das für jemanden kurz
sagen will, der diese Sprache versteht,
dann sagt man einfach:
Ich bin dankbar für Gottes Gaben
und schenke sie weiter.
Und das braucht man nicht nur
in der Gegenwart von andern,
sondern in meinem Herzen kann ich
 allen Menschen in der Ukraine
Liebe und Zuversicht und Lebenskraft
und Mut und Ausdauer schicken.
Das Leben schenkt es mir
und ich lasse es weiterfließen
in dieser Richtung.
Dankbar für das Herz des Lebens:
Das göttliche Herz des Universums,
das mir das alles schenkt.»

(38:43) Bettina Buchholz: «Wenn deine Leukozyten und Thrombozyten durch die Chemo und die Stammzellentransplantation verrücktspielen, dann nimmst du Bruder Davids Satz vom Segen, der durch dich hindurchströmt wie der Blutstrom des Universums noch einmal viel tiefer und deutlicher wahr.»

(53:44) «Wir wissen's ja oft nicht, die wir im Schweren sind,
bis über's Knie, bis an die Brust, bis an's Kinn.
Aber sind wir denn im Leichten froh,
sind wir nicht fast verlegen im Leichten?
Unser Herz ist tief,
aber wenn wir nicht hineingedrückt werden,
gehen wir nie bis auf den Grund.
Und doch, man muss auf dem Grund gewesen sein.
Darum handelt sich's.»

[Rainer Maria Rilke in seinem Brief an Lou Andreas-Salomé, 25. März 1904]

[Obiger Text ist ein Auszug aus der Transkription des Videos Lebendig bleiben mit Bruder David Steindl-Rast (2023) ab (27:21-39:00 und (53:44-56:16); siehe auch Leiden in schwerer Krankheit und Sehnsucht: Ergänzend 1.; Rilkes Brief ebenso in Verleihung der Trompete von Jericho 2025]

[Ergänzend:

1.1. Video zur Buchpräsentation des Buches HerzWerk (2025), Transkription der Passage ab (33:55-38:14); siehe auch in Rühmen ‒ Dasein ist Gesang:

Alexandra Kreuzeder liest die letzten sechs Verse des Sonetts (Die Sonette 2. Teil, X): ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine, solange sie sich erdreistet, im Geist, statt im Gehorchen zu sein›:

«Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert
Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen
Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …
Und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,
baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.»

Bruder David: «Rilke hat gekniet und bewundert sein ganzes Leben lang. … Also das Dasein ist ‹ein Spiel von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.› Es ist genug, das nach Hause zu nehmen, das ist für einen ganzen Abend genug.»

Wir spüren die Gegenwart von Stille, wenn Bruder David diese Verse wiederholt und … «bewundert»:

Alexandra: «Und zugleich fällt mir ein, was sicher viele von euch kennen:

‹Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
daß dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.›

(Rilke: ‹Mir zur Feier›)»

Bruder David berührt: «Danke. ‒ Das ist wieder so ein unanschauliches kristallklares: … Nicht-Bild … und es könnte für Dichtung im Allgemeinen stehen:

Die Dichtung breitet sich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.»

1.2. Im Buch HerzWerk: Freude finden mit Rainer Maria Rilkes ‹Sonette an Orpheus› (2025): Kp. 10. ‹Alles Erworbene bedroht die Maschine› (Die Sonette Teil 2, X): ‹Knien und bewundern›, 85f.; siehe auch Rühmen ‒ Dasein ist Gesang: Ergänzend: 4.1.:

Alexandra: «Und das Rühmen beginnt mit dem Niederknien und Bewundern.»

Bruder David: «Auch die große US-amerikanische Dichterin Mary Oliver meint wohl diese Gebärde, wenn sie in ihrem Gedicht ‹Sommertag› sagt:

‹Ich weiß nicht genau, was ein Gebet ist.
Ich weiß aber, wie ich achtsam sein,
mich fallen lassen kann ins Gras,
niederknien kann im Gras ...›

Auch sie ‹kniet und bewundert›. Und sie spricht für viele der Religion entfremdete Menschen. Mit diesem staunenden Niederknien beginnt die Wiederentdeckung der Ehrfurcht

Alexandra: «Dieses Staunen vor dem Geheimnis des Lebens drückt Rilke auch in einem anderen Gedicht kraftvoll aus:

‹Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben …›

(Rilke: ‹Mir zur Feier›)»

Bruder David: «‹Lauschen und Staunen› macht uns auch offen und empfänglich für die tiefe Frage, die Mary Olivers Gedicht uns am Ende stellt:

‹Sag mir, was hast du vor mit deinem
einen, wilden und kostbaren Leben?›

Wir brauchen nur hinhorchen. Das Leben selbst wird uns die Antwort geben. Ein tröstlicher Gedanke.»

Alexandra: «Fast könnte unser Sonett schon enden mit der Wiederentdeckung der Ehrfurcht durch Knien und Bewundern. Aber die drei letzten Verse sind doch wunderschön. Wer wollte sie missen?» (85)

Bruder David: «Auch erscheint das Wörtchen ‹noch› hier zum dritten Mal und bindet diese letzte Strophe fest an das ganze Sonett. Der tröstliche Gegensatz zur Zerstörung durch die Maschine beginnt mit den Worten:

‹Aber noch ist uns das Dasein verzaubert.› Dann heißt es: ‹Noch› ist es Ursprung. Und hier nun das dritte ‹noch›:

‹Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus ...›

Wenn wir dieses ehrfürchtige Verstummen, dieses Sprachlos-Werden beim Knien und Bewundern aus Erfahrung kennen, dann brauchen wir keinen weiteren Beweis, dass das Dasein immer noch verzaubert ist.

Die Musik, die immer neu aus den bebendsten Steinen im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus baut, ist ein Bild, das wir unschwer verstehen.

Zugleich ist dies aber auch eines der schönsten Beispiele für Rilkes kristallklare und zugleich unanschauliche Bilder.

Schon dieses eine Bild macht dieses Sonett unvergesslich.»

2. Lobpreis des Lebens:

«Stirbt nicht alles zuletzt und zu bald?
Sag' mir, was planst denn du zu tun mit deinem
einen abenteuerlichen und so kostbaren Leben?»

«Doesn't everything die at last, and too soon?
TeIl me, what is it you plan to do
With your one wild and precious life?»

(Mary Oliver in ‹The Summer Day›)

«Wenn‘s aus ist, möchte ich sagen, mein Leben lang
war ich als Braut dem Staunen angetraut,
nahm ich als Bräutigam die Welt in meine Arme.»

«When it’s over, I want to say: all my life
I was a bride married to amazement.
I was the bridegroom, taking the world into my arms.»

(Mary Oliver in ‹When Death Comes›)]

____________________ 

[1] Die niederländische jüdische Slawistik- und Psychologiestudentin Etty Hillesum begann im März 1941, mitten in Krieg und Judenverfolgung, siebenundzwanzigjährig mit Tagebuchaufzeichnungen, die sie bis zu ihrer Deportation fortführte; zwei Jahre später starb sie in Auschwitz.

[2] Etty Hillesum: ‹Das denkende Herz: die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943›, hrsg. und eingeleitet von J. G. Gaarlandt; aus dem Niederländischen von Maria Csollány (= rororo, Bd. 15575), Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag 282018



Quellenangaben

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.