Im Gespräch – Warum Glauben (2025)
Prof. Dr. Dr. Matthias Beck im Gespräch mit Bruder David Steindl-Rast OSB Video
Moderation: Dr. Paul Wuthe
Die Themen des Gesprächs
1. Teil:
WAS MEINEN WIR, WENN WIR VOM GLAUBEN SPRECHEN? [1]
(06:00) Wir vernehmen von Bruder David, wie er selber im christlichen Glauben verwurzelt ist:
«Wenn ich in eine buddhistische Welt hineingeboren und darin erzogen worden wäre, hätte ich vielleicht über das Christentum gar nichts gewusst und wäre wahrscheinlich buddhistischer Mönch geworden. Aber ich bin in das Christliche hineingewachsen und froh und dankbar dafür. Ich habe einmal einen Dialog mit Baker Roshi[2] geführt. Er sagte zu mir: ‹Klammere jetzt einfach alle deine christlichen Überzeugungen ein. Stell dir für die Dauer unseres Gespräches vor, dass die alle falsch sind, damit wir auf einem ebenen Boden Ball spielen können›. Also habe ich einmal versucht, mir das vorzustellen. Es gelang mir nicht gut. Dann habe ich stärker und stärker versucht, mir vorzustellen, dass meine christlichen Überzeugungen falsch sind, aber am Ende musste ich zugeben: ‹Es tut mir leid. Das kann ich einfach nicht. Ich kann nicht über meinen eigenen Schatten springen. Ich bin Christ. Ich identifiziere mich total damit›. Das heißt aber nur, dass ich mein Menschsein christlich ausdrücke. Das Eigentliche, worüber wir sprechen, ist nicht das Christliche oder das Buddhistische, sondern das allgemein Menschliche. Ich glaube, dass die größte Ehre des Christentums darin besteht, dass es wirklich zum Menschlichen führt. Die größte Ehre des Buddhistischen ist es, dass es ebenfalls zum Menschlichen führt. Das Menschliche ist größer und wichtiger als die Form, in der wir es ausdrücken. Ich glaube schon, dass du das ähnlich siehst, aber du würdest es wahrscheinlich anders sagen?»
(Bruder David im Gespräch mit Pater Anselm Grün:
Das glauben wir (2015), 74f.;
siehe auch die Audios
Das glauben wir ‒ Spiritualität für unsere Zeit (2015):
Gott nicht begreifen, aber verstehen,
Gott mit Blick auf das Leben,
Gott mit Blick auf Beziehung ‒ das ‹ES›)
Für Bruder David ist das Entscheidende am Christentum: Der geschichtliche Jesus hat uns gezeigt, dass wir eine ganz persönliche, liebende und gegenseitige Beziehung zu diesem innersten Geheimnis des Lebens haben können, mit dem jeder Mensch sich auseinandersetzen muss. Daraus ergibt sich dann das christliche Verständnis der Dreifaltigkeit, aber das ist schon weiter entfernt. Der eigentliche Kern der christlichen Botschaft ist, dass das innerste Geheimnis des Lebens uns liebt und wir es lieben können.
(10:18) Matthias Beck spricht Bruder David darauf an, dass er das Wort «Gott» selten verwendet und lieber vom «Leben» spricht.
Bruder David antwortet, dass er das Wort Gott vorsichtig verwendet, weil es so leicht missverstanden wird. (15:08) ergänzt er: Dort, wo wir vom großen Geheimnis als Dialogpartner sprechen, dort verwende ich auch das Wort Gott.
«Wir sehnen uns nach dem großen Du,
das unsere Lebensgeschichte hören will
und sie auch versteht.»(Bruder David in seinem Buch Das glauben wir (2015), 40)
(10:56) Wir haben eine Lebensgeschichte, das sind keine Episoden, sondern es ist eine Geschichte. Die wollen wir also jemandem erzählen, je mehr wir jemanden lieben, desto mehr. Nie aber gelingt uns das ganz, weil unser letztes Du dieses große Geheimnis ist, dem wir in jedem Menschen begegnen. Es geht über den einzelnen Menschen hinaus. Wir erleben: Ich kann nur deshalb Ich sagen, weil vor mir schon das Du mich anspricht.
Und dann kommt noch etwas dazu: Wir sagen: «Ich bin nicht nur da, es gibt mich», «es gibt alles, was es gibt». Was ist dieses sonderbare ES, das alles gibt? ES ist so allumfassend, dass ES ebenso allumfassend sein muss wie das große Du und es ist das Urgeheimnis des Lebens.
(13:55) Bruder David noch ganz kurz abschließend: Wenn ich Geheimnis sage, meine ich nicht irgendetwas Geheimnisvolles, sondern die letzte Wirklichkeit, die wir nicht begreifen können, nicht in Begriffe fassen, aber verstehen, wenn sie uns ergreift, in Ergriffenheit. Viele Menschen erleben das mit Kunst, mit Musik besonders. Das Wort «Gott» bedeutet ursprünglich: Das Angerufene oder das uns Anrufende:
«Das Wort ‹Gott› entstand früh in der Geschichte unserer Sprache und geht auf die indogermanische Wurzel ‹gheu› mit der Grundbedeutung ‹rufen› zurück. Unter ‹Gott› wurde also ursprünglich ‹Das Angerufene› verstanden, vielleicht auch ‹Das uns Anrufende›. Jedenfalls schwingt bei dem Wort ‹Gott› von Anfang an die Gegenseitigkeit einer Ich-Du-Beziehung mit. Gleichzeitig war das grammatikalische Geschlecht des Wortes ursprünglich sächlich und so wurde die Gefahr vermindert, Gott ‒ das große Geheimnis ‒ zu vermenschlichen.»
(Bruder David in seinem Buch Orientierung finden, 54)
(16:38) Matthias Beck: Der Buddhismus ist eine apersonale Religion, ohne eine personale Gottesvorstellung. Wie geht das?
Bruder David: Du sprichst von dem, worüber die buddhistische Religion spricht. Und sie spricht eben nicht über Gott. Buddha hat ausdrücklich verweigert, über gewisse Dinge zu sprechen. Das wird das «vornehme Schweigen des Buddha» genannt. Und Gott war ausdrücklich eines der Dinge, über das er nicht sprechen wollte, er muss ja nicht. Der einzelne Buddhist ist genau sie du und ich und jeder andere Mensch in der Welt dem großen Geheimnis gegenübergestellt, und unsere Aufgabe im Leben ist ‒ ob wir Buddhisten sind oder nicht ‒, damit zu ringen, damit umzugehen und daraus zu leben.
«Einen Gott, den es gibt ‒ gibt es nicht.»
(Dietrich Bonhoeffer)
Wenn Gott das ES ist oder das ER, das alles gibt, dann ist Gott nicht «gegeben», sondern die Quelle von allem.
(18:36) Matthias Beck zur Frage von Bruder David: Was macht es Menschen heute so schwer zu glauben? Was heißt überhaupt glauben?
Glauben ist zuerst etwas ganz Alltägliches: Wir trinken ein Glas Wasser und wir glauben, dass es nicht vergiftet ist. 90% von dem, was wir glauben zu wissen, müssen wir glauben.
Der religiöse Glaube ist heute so schwierig, weil ein Großteil der Kirchengeschichte den christlichen Glauben verfälschte.
Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1965) hieß «glauben» so viel wie «Für-wahr-halten» von Sätzen, die die Katholische Kirche dir zu glauben aufgibt.
Dabei ist glauben etwas Personales, nicht: Ich glaube etwas, sondern ich glaube dir! Ich vertraue dir, dass du mich nicht belügst. Und ich vertraue Gott, dass er mich nicht belügt. Wobei schon der hl. Augustinus gesagt hat: Was wäre, wenn auch Gott mich belügt? Was bleibt dann noch? Und er kam zu der genialen Idee, zu sagen: Eines weiß ich sicher: Dass ich es bin, der von Gott belogen wird. Das Ich ist das letzte, was mir Sicherheit gibt.
(21:30) Wir haben den Blick auf die Person Jesu Christi verstellt. «Atheismus entsteht durch ein schlecht vermitteltes Christentum» (Zweites Vatikanisches Konzil). Wir haben viel zu viel über Kirche geredet und viel zu wenig über Jesus Christus. Soweit ich weiß, sind wir Christen und keine «Kirchisten». Meinem Vater wurde noch verboten, die Bibel zu lesen, nur Katechismus, nur Sekundärliteratur. Wir müssen Jesus Christus kennenlernen und dann erkennt man, was Christentum ist. Aber nur zum Teil durch die Lehre der Kirche.
Ergänzend dazu Bruder David im Gespräch mit Pater Johannes Pausch in Trau dem Fingerzeig (2025): ‹Wenn die Tiefe des Religiösen fehlt: Was haben die Religionen falsch gemacht›?
(22:54) Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sind wir dazu aufgerufen, etwas zu erleben von Gott, es geht um Gotteserfahrung.
«Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein,
einer, der etwas erfahren hat,
oder er wird nicht mehr sein.»(Karl Rahner)
Und an diesem Punkt stehen wir: Wir haben die Erfahrungsdimension ausgeklammert und die Bedeutung der Stille, genau das, was der Buddhismus lehrt: Das ewige Schweigen, die Theologie des Vaters.
«Die größte Offenbarung ist die Stille.»
(Laotse).
(24:02) Matthias Beck fragt Bruder David: Ist nicht der Mensch von Hause aus religiös? Und können wir nicht von allen Religionen etwas lernen?
Bruder David:
Ganz wichtig ist, zwischen Religion und Religiosität zu unterscheiden.
Die Religionen sind Versuche der Religionsstifter ‒ ob das jetzt einer ist oder eine Gruppe ‒, dieses große Geheimnis in ihrer Zeit, mit den Mitteln ihrer Kultur, ihren Zeitgenossen nahezubringen mit Lehre (Verstand) ‒ Ethik (Wille) ‒ Ritual (Gefühl). Im Laufe der Jahrhunderte verändern sich die gesellschaftlichen Umstände so sehr, dass es wieder einen neuen Religionsstifter braucht, der wieder für viele verständlich und begeisternd diese Urreligiosität ausdrückt. Die Religionen sind immer nur Versuche, die Religiosität auszudrücken.
Bruder David vergleicht die Religionen im Unterschied zur Religiosität mit dem Bild von Brunnen, die alle von demselben Grundwasser gespeist werden:
Das Wasser schenkt Leben, nicht der Brunnen.
«Der Mensch ist von Haus aus religiös.
Er kann gar nicht anders.
Wir müssen das Religiöse fördern.
Aber zunächst nicht mit der Moral.»(Matthias Beck)
(28:03) Der Mensch ist mehr als nur ein Mensch. Er wird erst zum Menschen, wenn er sich auf die religiöse Dimension einlässt. Wenn sie fehlt, dann stürzt der Mensch sich selber in das «Mehr» des Transhumanismus: Die Überschreitung des Menschen durch die Maschine, die selbstgemachte Überschreitung durch Einpflanzen von Chips, Lebensverlängerung durch genetische Manipulation. Das Christentum ist zunächst eine Religion, die etwas über das Sein aussagt: Die Quelle des Seins ist Beziehung in sich, ist Liebe: Vater, Sohn und Hl. Geist. Wir haben das verdreht und Ethik an die erste Stelle gerückt, statt vom Sein zu sprechen. Dabei gilt:
«Agere sequitur esse»:
«Das Tun folgt dem Sein.»
Wenn aber der Mensch im Sein, in der Wurzel, krank, angeschlagen, gebrochen ist, dann kann er keine guten Früchte bringen. Und die Moralkeule des «du musst» haut ihn ein zweites Mal um.
Wir müssen wieder ernst nehmen, dass das Christentum eine heilende Religion ist: Gebet, Stille, Sakramente, sind Heilmittel, Medikamente: «Christus, der Apotheker» (Briefmarke zum Stadtmuseum St. Pölten).
(31:53) Wir müssen den Menschen helfen, ihrer Intuition zu vertrauen. Wir haben zum Teil mit unserer Erziehung die Intuition der Kinder kaputtgemacht. Wenn ein Kind sagte: «Da stimmt was nicht. Der Pfarrer ist mir zu nahegekommen», dann hat die Mutter gesagt: «Der Pfarrer macht das nicht.» Uns ist beigebracht worden: Gott ist ein strenger Richter, er bestraft die Bösen und belohnt die Guten. Ist das das richtige Gottesbild? Nein, Bruder David schüttelt den Kopf: «Das war der erste Satz, den wir gelernt haben im Katechismus».
Die Dreieinheit von Schweigen ‒ Wort ‒ Verstehen erfasst die Religionen in ihrer Einheit und Verschiedenheit.
(Bruder David in Religionen ‒ Drei Innenwelten)
«Worte, die aus der Stille kommen, reden ‒
von was immer sie auch sonst noch reden mögen ‒
von Dir, Du großes Geheimnis.
Sie weisen auf Unaussprechliches hin.Sie offenbaren ein flüchtiges Glänzen von einem Ganzen,
das dunkel im Schweigen ruht.Mach mich hellhörig für das Unsägliche,
das in allem Ausgesagten mitschwingt ‒
für den unfasslichen Überfluss.Zugleich aber möchte ich auch auf die Fasslichkeit achten,
die Worte uns zeigen, indem sie Fließendes einfassen,
bevor es wieder überfließt.Dankbar für alles in ihren Schalen erfasste,
will ich Worte achtsam hören und sorgfältig nutzen ‒
achtsam, gewissenhaft und dankbar für diesen Schatz,
unseren Wortschatz.
Danach nimm mich wieder auf in Deiner Stille. Amen.»(Bruder David in Erwachende Worte (2023), 43;
siehe auch Schweigen und Wort)
(32:28) Bruder David: Im Buddhismus ist das Schweigen zentral. Es ist so zentral für alle Zweige des Buddhismus wie für alle Zweige des Christentums, des Judentums und des Islams das Wort ist.
«Das Schweigen, von dem wir hier sprechen,
ist ja nicht gekennzeichnet
durch die Abwesenheit von Worten,
sondern durch die Anwesenheit einer Wirklichkeit,
die so überwältigend ist,
so erschütternd und anziehend zugleich,
dass sie uns sprachlos macht.
Die Gegenwart Gottes geht eben über das Wort hinaus.»(Bruder David in Jesus als Wort Gottes (1972), 42)
«Das wahre Wort kommt immer aus der Stille
und kehrt wieder in die Stille zurück:
‹Als alle Dinge im Schweigen lagen
und die Nacht in ihrem schnellen Lauf
die Mitte erreicht hatte,
sprang dein göttliches Wort
vom himmlischen Thron.›
(Weish 18,14f.)»(Bruder David im Audio Gottesbild und Glaubenszweifel (2003) ab 33:30)
Der Buddhismus verlegt den Schwerpunkt auf das Schweigen. Die Wortreligionen ‒ Bruder David nennt sie gerne die Amen-Traditionen, weil ihnen das Wort Amen gemeinsam ist ‒, verlegen den Schwerpunkt auf das Wort und der Hinduismus auf das Verstehen. Verstehen nicht im Sinn von begreifen, sondern sich ergreifen lassen.
«Einer meiner Zen Lehrer hat immer gesagt: ‹O ihr im Westen, ihr sagt immer, ihr wollt verstehen im Sinne von unterstehen ‒ ‹to under-stand› ‒, aber was ihr eigentlich wollt, ist überstehen, aus der Hubschrauberperspektive betrachten. Ihr seid wie Leute, die unter der Dusche stehen und einen Regenschirm aufspannt.›
(Bruder David in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil I (2014), 61f.)
«Es ist zu schön, um wahr zu sein, aber ich erinnere mich noch ganz deutlich auf den für mich ganz erschütternden Augenblick, in dem ein ganz Großer, Swami Venkatesananda, gesagt hat: ‹Yoga i s t Verstehen›. Ich konnte das gar nicht glauben, als ich das gehört habe. Und das ist nicht nur Hatha Yoga. Yoga ist die Spiritualität des Hinduismus. Es gibt viele Yoga: Raja Yoga, Karma Yoga, Bhakti Yoga, Hatha Yoga ‒ und all die Spiritualität des Hinduismus ist Verstehen, und Yoga heißt ja: ‹Verbindung› ‒ es kommt vom selben Wortstamm wie Joch für Ochsen. Und was Verstehen verbindet, ist Wort und Schweigen.
Wirklich zu verstehen, ist ein Prozess, in dem wir durch Tun ins Schweigen wieder kommen, ein Prozess, in dem wir so tief auf das Wort hinhorchen, dass das Wort uns ergreift, und in dieser Ergriffenheit in dieses Schweigen bringt, aus dem es kommt. Und das ist im Hinduismus entfaltet und in Jahrtausende lang dran geübt und im Tun verstanden.»
(Bruder David in Einsichten aus Rilkes Dichtung, Teil II, 161)
Die kappadozischen Väter haben das den Reigentanz der Trinität genannt. Das Wort, der Choryphaeos als Anführer des Tanzes, kommt heraus aus dem Schweigen des Vaters und kehrt im Hl. Geist, dem Verstehen zum Vater zurück.
2. Teil:
WER IST JESUS UND WAS MEINEN WIR MIT CHRISTUS?
(36:25) Bruder David fragt Matthias Beck, wer Jesus ist und warum er für seinen Glauben wichtig ist.
Matthias Beck antwortet: Man kann den geschichtlichen Jesus nicht trennen von seiner Auferstehung oder Auferweckung.
Wir wüssten von Jesus nichts, wäre nicht dieses eigenartige Phänomen, dass er umgebracht wurde, am Kreuz hängt und dann drei Tage später seinen Leuten wieder erscheint.
Es stellt sich die Frage: Wie unterscheidet sich Jesus von uns, wenn er uns in allem gleich ist außer der Sünde?
Kreuz und Auferstehung ist Kern und Angelpunkt des christlichen Glaubens.
Matthias Beck wird später (51:08) Paulus zitieren wie Bruder David in seinem Buch Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010), 155:
«Ist aber Christus nicht auferweckt worden,
dann …. sind wir» (die der Liebe Gottes vertrauen,
für die Jesus bis zum Tod Zeugnis ablegte)
«erbärmlicher dran als
alle anderen Menschen» (1 Kor 15, 14-19).
Aber unser Glaube an den von Gott auferweckten
und so gerechtfertigten Jesus Christus
gibt uns Mut und Kraft,
inmitten aller Widerstände
sein Leben zu leben»
(43:39) Für Bruder David ist es wichtig, diesen paulinischen Fokus zu ergänzen mit Blick auf das Leben Jesu:
Jesu Leben hat ein klares Profil: Er war ein Heiler und Gesellschaftsreformer. Kern und Angelpunkt seines Lebens und Wirkens war das Reich Gottes. Aus religiösen Gründen wurde niemand gekreuzigt. Nur die Römer, die Besatzungsmacht seiner Zeit, hatten die Vollmacht jemand zu kreuzigen. Und sie vollzogen die Strafe nur, wenn jemand die Machtpyramide seiner Zeit ‒ oben der Kaiser, unten die rivalisierenden Kräfte und weiter unten die Ausgebeuteten ‒ unterminierte, und das waren davongelaufene Sklaven und Revolutionäre. Im Gegensatz zur strukturellen Gewalt des römischen Reiches ist das Reich Gottes gewaltfrei, ersetzt Rivalität durch Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung, und die Habgier durch Teilen: eine ideale kommunistische Einstellung.
(48:08) Bruder David spricht von zwei Zeugnissen zum Tod Jesu: Das «Sindon», das sogenannte «Leichentuch von Turin» und das «Sudarium (= Schweißtuch) von Oviedo». Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen an den Blutbefunden, dass er gekreuzigt wurde, gegeißelt und gestorben ist und begraben wurde. Das ist außergewöhnlich und muss betont werden in den Evangelien, denn Gekreuzigte wurden praktisch nie begraben, sie wurden von den Hunden oder Vögeln aufgefressen. Wir können zeigen, dass er begraben wurde, wie das Leichentuch über ihn gelegt war, wir können zeigen, dass er ziemlich genau nach 72 Stunden verschwunden ist aus diesem Tuch, und das Tuch hat sich zusammengelegt, früher war der Körper drinnen, jetzt ist es zusammengesunken.
(51:28) Bruder David: Tatsache ist, dass die Jünger mit dem leeren Grab konfrontiert sind. Der Bericht im Johannesevangelium mit den Jüngern, die die Leichentücher sehen (Joh 20,6f.), ist sehr wahrscheinlich geschichtlich. Seine Jünger haben gesehen, dass der Leichnam weg ist. Und die früheste Auferstehungsbotschaft im Lukasevangelium (Lk 24,6) heißt ja nicht: «Er ist auferstanden, er ist nicht hier», sondern «er ist nicht hier: er ist auferstanden». «Auferstanden» ist die Interpretation. Wir müssen alle etwas Unbekanntes mit Bekanntem verbinden. Zur Zeit Jesu war im Judentum der Glaube an die Auferstehung der Toten durchaus vorhanden (Mk 12,18-27 par.), wenn auch ein nicht geringer Teil der gesetzestreuen Juden ihn ablehnte (Apg 23,8), aber immer sind alle auferstanden und nicht einer. Wie ein Findlingsblock steht im Matthäusevangelium: «Und in Jerusalem standen viele auf und erschienen den Lebenden. Die Toten standen auf in Jerusalem» (Mt 27, 52f.): das wird meistens übersehen, bestätigt aber, dass die Auferstehung nur eine Auferstehung von allen war.
Das hat nicht ganz gepasst, dann hat man aus dem Heidentum die Himmelfahrt übernommen. Die Himmelfahrt von Herakles, Romulus usw. war im Heidnischen Umfeld ein bekanntes Narrativ. Und mit Himmelfahrt drückte man aus, dass Jesus in das Geheimnis des himmlischen Vaters eingegangen ist, dass er lebt und sein Leben in Gott verborgen ist.
Auch wir stehen heute wie die Jünger vor dem leeren Grab und müssen es interpretieren:
«Streng genommen, kann es keinen äußeren Beweis für die Auferstehung geben, nur Indizien wie etwa das Zeugnis der ersten Christen oder das erwähnte Grabtuch von Turin. Für ein Ereignis, das sich am Grat zwischen Zeit und Ewigkeit abspielt, kann es nur innere Beweise geben.
Wir wissen hier i n der Zeit um etwas,
was ü b e r die Zeit hinausgeht.Das Leben des Auferstandenen gehört der Ewigkeit an, dem Jetzt, das alles Vorher und Nachher einschließt. Jesus Christus ist ‹in Gott verborgen› (Kol 3,3). Sein Leben ist in Gott aufgehoben, und zwar in dreifachem Sinn: in der Zeit ist es gelöscht; jenseits der Zeit ist es unzerstörbar bewahrt; zugleich ist es in Gottes Gegenwart hinein überhöht, so dass es im Geist der Liebe die ganze Welt durchwirkt.
Was man einen inneren Beweis nennen könnte, sieht so aus: Zu wissen, wofür Jesus lebte und sein Leben hingab, bedeutet, Gottes Weisheit und Macht darin zu erkennen. Diese Weisheit ist aber nach weltlichem Ermessen Torheit, diese Macht Schwachheit. In der Sprache Martin Luther: ‹Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind› (1 Kor 1,25). Gottes Autorität lässt sich aber nicht auf immer ignorieren. Es ist ja die Autorität der Liebe, um die es hier geht, und wir wissen im Innersten, dass dies die letztgültige Autorität ist. Früher oder später ‒ am dritten Tag ‒ muss es sich erweisen: Liebe ist stärker als der Tod. Wir wissen das in unserem Herzen, schon bevor das Zeugnis der Jünger von der Auferstehung es uns von außen her bestätigt.»
«Euer Leben ist mit Christus in Gott verborgen» (Kol 3,3).
Das ist von großer Wichtigkeit für alle Menschen,
nicht nur für Christen. Unser wahres Leben ‒
das Christus-Selbst in uns ‒
ist ein v e r borgenes, aber auch ein g e borgenes:
verborgen in Schwäche, geborgen in Gott;
dessen Schwachheit machtvoller ist
als menschliche Stärke (1 Kor 1,25)»(Bruder David in seinem Buch
Credo: Ein Glaube, der alle verbindet (2010),
151 und 161)
(54:20) Matthias Beck: Der Auferstandene erscheint den Jüngern und vor allem den Frauen in einer Gestalt, in der sie ihn zunächst nicht erkennen, dann aber doch eigenartigerweise.
Wie können wir heute Gott treffen? Ich kann ihn in dir treffen, im Gärtner, überall.
Jesus ging als Erstes in die Wüste, ins Schweigen. Weil aus dem Schweigen das Wort eine ganz andere Kraft entwickelt als aus dem Palaver der Welt.
Aus dem Urwort des Vaters wird das Wort geboren und das ist Jesus Christus. Und der entlässt dann an Pfingsten den Hl. Geist aus sich.
Der entscheidende Punkt ist: «Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens» (Martin Heidegger). Die Stimme Gottes ist nicht die Stimme des psychisch Kranken, dem Gott vermeintlich sagt, er soll hier zwölf Stunden stehen bleiben.
Das Christentum ist eine anspruchs-volle Religion, weil wir da von jemandem angesprochen werden. Wir müssen mit den Begriffen sorgfältig umgehen:
«Credo, ut intelligam ‒
Ich glaube, damit ich einsehe.»(Anselm von Canterbury, 1033-1109)
Die erste Gabe des Hl. Geistes ist Einsicht, Erkenntnis, Verstehen.
Jesus sagt: «Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.» (Joh 15,15). Der Freund versteht, was der andere ihm sagt. Ein Stück weit müssen wir Gott verstehen können. Wir denken immer in der aristotelischen Logik entweder oder. Wir müssen viel mehr asiatischer denken: sowohl als auch: sowohl verstehen als auch nicht verstehen.
«Zwischen Schöpfer und Geschöpf
lässt sich keine so große Ähnlichkeit feststellen,
dass zwischen ihnen nicht
noch eine größere Unähnlichkeit
festzustellen wäre.»(Definition von Analogie im Vierten Laterankonzil 1215)
(59:26) Wie kann ich Gott heute erkennen? Soweit ich es sehe, nur indirekt. Aber Jesus haben die Jünger direkt erkannt, Auge in Auge: den lebendigen, innergeschichtlichen Jesus. Den auferstandenen Christus haben sie indirekt erkannt im Gärtner, in der Natur. Deshalb sind die ganzen Gleichnisse, die versuchen das Unsagbare zu sagen, Gleichnisse: «Mit dem Himmelreich ist es wie mit dem Mann, der guten Samen auf seinen Acker streute» (Mt 13,24).
Das Unsagbare können wir nur in Bildern ausdrücken. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, in Bildern zu reden, weil die Zuhörer sich Bilder besser merken können. Das ganze Neue Testament ist eine Bildersprache, aber kein Bilderbuch. Doch in diesen Bildern zeigt sich Wahrheit. Wissenschaft kann keine Wahrheit hervorbringen, die bringt nur Hypothesen und versucht sie zu beweisen. Aber es gibt ein ganz anderes Wissen: ein Glaubenswissen, ein existenzielles Wissen, und das hat etwas mit Auferstehung zu tun. «Brannte nicht unser Herz» (Lk 24,32), sagen die Emmausjünger, da müssen sie keine Formeln der katholischen Kirche auswendig lernen.
3. Teil
VOM ERLEBNIS ZUR LEBENSAUFGABE;
ERMUTIGENDE UND KLÄRENDE EINSICHTEN
3.1. Glaubenswissen ist innere Erfahrung: ein Priester und Mönch im Gespräch
(01:00:50) Matthias Beck: Es gibt eine Form von Wissen, die aus dem Glauben kommt, das nennen wir Glaubenswissen. Und das nenne ich Auferstehung, sonst wäre ich nie Priester geworden.
Im Alter von 25 Jahren wurde Matthias Beck eine Erfahrung zuteil, die ihn so nachhaltig prägte, dass er sich 30 Jahre später, 2011, zum Priester weihen ließ.
«Nicht von heute auf morgen. In einer Sekunde brach mein Leben völlig um. Eines Tages, ich war im vierten Semester, ich erinnere mich noch ganz genau, war ich mit meiner Freundin auf einem Spaziergang und habe plötzlich den Himmel offen gesehen. Aber ich wusste in der Sekunde: ‹Jetzt ist alles anders.› Gott hatte in mein Leben eingegriffen. Es hat 30 Jahre gedauert, bis ich es einordnen konnte. Zuallererst dachte ich, ich muss ins Kloster gehen. Ich war nicht mehr in der Lage, ein medizinisches Buch zu lesen und meine Beziehung zu meiner Freundin wurde auch schwieriger.»
«Man sieht etwas und weiß etwas,
ohne etwas zu wissen.
Man hört etwas in der Wüste,
ohne etwas zu hören;
die Wüste spricht nicht;
zwei Verliebte schauen sich in die Augen,
sagen kein Wort, aber sagen mehr
als mit tausend Worten.
Gott redet in der Weise des Schweigens
durch Erkenntnis, durch Begegnung:
anspruchs-voll»(Matthias Beck in Wikipedia, Anm. 3
und im Gespräch mit Bruder David)
Bruder David ist ganz bewusst nicht Priester geworden, sondern Mönch:
(01:02:48) Bruder David: Der Mönchsberuf ist ein eigener Beruf und unterscheidet sich vom Beruf des Priesters:
«Schon die frühchristlichen Mönche im 3. und 4. Jahrhundert wurden ‹therapeutes› genannt ‒ Heiler. Heilsein heißt, in sich eins sein, und im Wort ‹monachos› (Mönch) steckt ‹monos›, was nicht nur ‹allein› bedeutet, sondern auch auf das Einssein der Gemeinschaft hinweist und auf das All-eins-Sein kraft der einen ewigen Mitte.»
(Bruder David im Gespräch mit Johannes Kaup
im Buch Ich bin durch Dich so ich (2016),75f.)
Wir Mönche haben uns dafür gehalten, die Hechte im Karpfenteich zu sein, aber die Institution loyal, aber doch kritisch immer wieder zu hinterfragen. Und das brauchen wir in der Kirche. Und das Kloster, die Mönchsgemeinschaft ist ein Versuch, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen. Und die Kirche braucht dies ja. Die Kirche hat sich davon so weit entfernt, dass für die meisten Christen heute das Reich Gottes etwas ist, was nach dem Tod kommt. Ich habe keine Ahnung, was nach dem Tod kommt. Wir wissen das Wichtigste, dass unsere Liebe, unsere Beziehung zu Gott ja gar nicht vom Tod berührt werden kann, denn sie bewegt sich ja nicht auf der Ebene des Physischen, sondern des psychisch Individuellen, nicht so objektiv.
3.2. Glaubenswissen im Unterschied zu wissenschaftlichen Erkenntnissen
(01:05:28) Bruder David fragt Matthias Beck, wie er die Erscheinungen des Auferstandenen unterscheidet von dem, was man objektiv über das Leben und Sterben Jesu sagen kann.
Matthias Beck sieht ebenfalls einen fundamentalen Unterschied. Auferstehung ist nicht eine wissenschaftliche Kategorie, sondern eine Erfahrungskategorie, und er fragt: Kann eine Erfahrung wissenschaftlich erforscht werden? Die Erkenntnis der Welt ist maximal zur Hälfte wissenschaftlich, die andere ist Erfahrung. Was wir Auferstehung nennen, ist wissenschaftlich nicht zugänglich. Deshalb hat man schon zu Beginn gesagt: «Die sind irre, die haben Erscheinungen» (Apg 2,13). «Wer Visionen hat sollte zum Arzt gehen» (Helmut Schmidt). Ostern ist wissenschaftlich nicht zugänglich, das sagt aber nichts darüber aus, ob es die Gegenwart des Auferstandenen gibt. Das Phänomen der Liebe ist auch der Wissenschaft nicht zuglänglich, aber es gibt sie. Matthias Claudius: «So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn». Die wissenschaftliche Erforschung ist nicht einmal die Hälfte, was ist.
3.3. Sammlung statt Zerstreuung leben
(01:11:30) Matthias Beck: Auferstehung ist mir so wichtig, weil wir ohne den Glauben an die Auferstehung keine Perspektive nach vorne haben, über den Tod hinaus. Der Mensch hat eine Sehnsucht nach etwas Bleibendem. Die Menschen häufen sich Geld an, aber davon bleibt nicht viel, wenn man stirbt. Aber sie wollen es haben. So ist das mit der Transzendenz: der Mensch hat eine unstillbare Sehnsucht nach Bleibendem. Deshalb das Bedürfnis, Gegenstände und Fotos von Verstorbenen sorgfältig zu hüten. Ohne Jenseits oder Ewigkeit ist alles nichts. «Alle Lust will Ewigkeit.» (Nietzsche: «Oh Mensch, gib acht!») Oder Goethe sagt: «Verweile doch, du bist so schön.» (Goethe im «Faust»). Das Jetzt ist das Jetzt und das Jetzt ist unvergänglich: Augenblicke wach im Jetzt.
Das moderne Fegefeuer ist der Schmerz über das Versäumte. Und so habe ich es im Krankenhaus erlebt: Menschen sterben und sagen: «Herr Doktor, ich habe alles vertan, meine Frau ist mir weggelaufen, die Kinder sind rauschgiftsüchtig geworden, ich wollte immer nur viel Geld verdienen, und wissen Sie, was das Schlimmste ist: Ich sterbe in zehn Tagen und ich kann es nicht wieder gut machen.» Das ist die Hölle auf Erden; das heißt: Himmel und Hölle sind nicht etwas Jenseitiges, das sind Zustände schon hier und jetzt.
Matthias Beck spricht von Geistesgegenwart und Selbsterkenntnis. Jesus ging in die Wüste, um diesen Geist kennenzulernen. Und auch den Ungeist, den Versucher, die Ängste und die Sorgen.
(01:15:22) Wichtig ist für uns Stille, Schweigen. Gebet ist mehr hören als plappern: Jesus sagt: «Plappert nicht wie die Heiden, sondern gehe in deine Zelle und schließ dich ein und höre (Mt 6,5-7): Höre Israel (das Schma Jisrael, 5 Mose 6,4f.).» Und Blaise Pascal hat es so auf den Punkt gebracht: «Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.»
Die Zerstreuung, in der Peripherie leben: 65% der Jugendlichen fühlen sich einsam, obwohl sie tausend Social-Media Kontakte haben. Jesus geht sehr mild um mit dem Schwerstverbrecher, der mit ihm gekreuzigt wird: «Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein» (Lk 23,43). Er geht großzügig um mit der Ehebrecherin: «Ich verurteile dich nicht» (Joh 8,11). Aber der, der sein Talent vergräbt (Mt 25,26), mit dem geht er schwer ins Gericht. Oder mit den Schriftgelehrten und Pharisäern, die in der Äußerlichkeit des Formalen steckenbleiben (Mt, 23, 1-37).
3.4. Das Christentum ist Gottesverwirklichung
(01:17:04) Matthias Beck: Es gilt, in die Tiefe des Seins zu kommen. Das Wort «Grund» kommt aus der mittelalterlichen Mystik vom «Seelengrund»:
«So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur
seinen Sohn natürlich gebiert,
so wahr gebiert er ihn in des Geistes Innigstes,
und dies ist die innere Welt.
Hier ist Gottes Grund mein Grund
und mein Grund Gottes Grund.
Hier lebe ich aus meinem Eigenen,
wie Gott aus seinem Eigenen lebt.» [3]«Wer kommen will in Gottes Grund,
in dessen Innerstes, der muss zuvor
in seinen eigenen Grund,
in sein Innerstes kommen,
denn niemand kann Gott erkennen,
der nicht zuvor sich selbst erkennen müsse.»[4]«Du sollst Gott bildlos erkennen;
unvermittelt und ohne Gleichnis.
Soll ich aber Gott auf solche Weise
unvermittelt erkennen,
so muss i c h schlechthin e r
und e r muss i c h werden.
Genauerhin sage ich:
Gott muss schlechthin i c h werden
und i c h schlechthin Gott,
so völlig eins,
dass dieses ‹Er› und dieses ‹Ich›
e i n ‹Ist› werden und sind;
und in dieser Seinsheit
ewig e i n Werk wirken.»[5](Meister Eckhart in Predigt 5b, 54b und 83)
Der Mensch hat menschliche Anteile und göttliche Anteile. Und der Sinn des menschlichen Lebens ist, dass er vergöttlicht wird. Das Christentum ist nicht Selbstverwirklichung im heute gängigen Sinn des Wortes, das Christentum ist Gottesverwirklichung.
Matthias Beck: Der Mensch hat am meisten Angst vor sich selbst.
«Sünde ist, vor Gott nicht ‹Man selbst sein› zu wollen.»
(Søren Kierkegaard)
«Sünde ist vor Gott: Man will nicht
zu der eigenen Größe heranreifen.»
Die zentrale Aufgabe des Christentums heute ist: Die Menschen ermutigen, zu sich selbst zu finden, nicht fremdbestimmt. Gott, «innerlicher als ich mir selbst bin» (Augustinus), wendet sich mir zu, damit ich mich selbst finden kann, aber wir haben die Kirche zum Über-Ich gemacht.
(01:19:40) Bruder David sieht den Uranfang wie das Ende mit Sterben in unzerstörbarer Verbindung mit Gott: Gott hat Adam ‒ mit Adam ist nicht ein einzelner Mensch gemeint, sondern die Menschheit ‒ erschaffen als Gottes Ebenbild, belebt mit dem Lebensatem Gottes, dem Hl. Geist. Auch Jesus war diese Aussage bereits im ersten Buch der Bibel, im Buch Genesis (1 Mose 2,7) geläufig. Und Paulus fasst sie dann später zusammen:
«In Gott leben wir, bewegen uns und sind.»
«Dieses Gottesbild ist nicht theistisch. Im Theismus ist Gott der ‹ganz-Andere›, der himmlische Herrscher oben, getrennt von uns. Im Gegensatz dazu kommt diese Erfahrung dem Pantheismus (alles ist Gott) so nahe wie möglich, ohne pantheistisch zu sein. Im Unterschied zum Pantheismus gibt der Panentheismus dem Herzstück der Religion ‒ der Dankbarkeit Raum: Gott übersteigt alles unendlich, ist aber doch in allem und alles ist in Gott. Die Trinität ist in diesem Verständnis panentheistisch zu verstehen und nicht theistisch.»
(Bruder David im Vortrag Was bedeutet uns Jesus Christus heute (2004) ab 25:11)
Matthias Beck: Wir müssen wegkommen von diesem entweder ‒ oder, es ist immer beides: Gott ist in uns und wir sind in ihm.
«Durch ihn und mit ihm und in ihm
ist dir, Gott, allmächtiger Vater,
in der Einheit des Heiligen Geistes
alle Herrlichkeit und Ehre
jetzt und in Ewigkeit. Amen.»(Lobpreis im Hochgebet der Eucharistiefeier)
Wir müssen an unseren Gottesbildern arbeiten. Atheisten leben vom falschen Gottesbild, das wir ihnen vermittelt haben.
Bruder David präzisiert: «Du sollst dir von Gott kein Bild machen» (5 Mose 5,8): es geht um das Gottesverständnis.
3.5. Loslassen
(01:22:53) Bruder David: Der Buddhismus hat uns viel über das Leid zu sagen, dass es von Anklammern kommt und wir das Leid überwinden können, indem wir loslassen.
3.6. Nächstenliebe
(01:23:28) Bruder David und Matthias Beck verwenden das Wort Liebe selten, weil es so missverständlich ist.
Bruder David gibt dem Wort eine ganz klare Definition:
«Für mich ist Liebe das gelebte Ja
zur Zugehörigkeit und zur Beziehung:
‹Ich bin durch Dich so ich› (E. E. Cummings).»«Nächstenliebe heißt:
die Liebe, die das Leben mir
in diesem Augenblick anbietet
und nicht die Fernstenliebe,
die ich mir ausdenke.»
Matthias Beck ergänzt:
«Einen Menschen lieben heißt,
ihn so sehen,
wie Gott ihn gemeint hat.»(Fjodor Michailowitsch Dostojewsky)
Nächstenliebe heißt: Ich will, dass du das zur Entfaltung bringst, was in dir angelegt ist. Und wenn ich dir dabei helfen kann, dann ist das Nächstenliebe:
«Du sollst deinen Nächsten lieben wie (als) dich selbst»
(3 Mose 19,18)
Nächstenliebe, so egoistisch das klingt, beginnt bei dir selbst. Wenn du mit dir selbst nicht im Reinen bist, wirst du auch mit dem Andern nicht im Reinen sein.
«Wenn du selber unglücklich bist,
wirst du auch deinen Mitmenschen unglücklich machen.»(Immanuel Kant)
Selbstannahme ist ein anderes Wort für Selbstliebe. Im Letzten beginnt alles bei mir, so komisch das klingt. Und deshalb brauchen wir den dritten Aspekt: «Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie (als) dich selbst» (Mt 22,37-39), weil nur, wenn Gott dich liebt, du dich annehmen kannst, wie du bist mit deinen Schwächen, und dann kannst du auch den Nächsten lieben. Also auch hier kommt die Dreifaltigkeit herein.
3.7. Glück und Freude, Dankbarkeit und Gottvertrauen
(01:26:15) Bruder David: Glücklich kann man nur sein, wenn etwas glückt. Gemeint ist nicht Verpflichtung zum Glück, sondern zur Freude.
«Der Schlüssel zur Freude ist die Dankbarkeit.
Denn wenn wir nicht dankbar sind,
können wir alles haben, was wir wollen,
wir sind immer noch nicht freudig.
Wenn wir aber alle möglichen Schwierigkeiten
haben, aber doch dankbar dafür,
dann haben wir Freude.
Und das entspringt dem Lebensvertrauen,
und Lebensvertrauen in diesem Sinn
ist Gottvertrauen.
Ich vertraue jeden Augenblick dem,
was das Leben mir zuspricht,
von mir verlangt, weil
das Leben die Form ist
in der ich Gott begegne.»
Matthias Beck ergänzt: Glauben heißt, Gott vertrauen: Es geht auch umgekehrt: Gott vertraut auch mir. Gott traut mir auch etwas zu. Er traut dem verlorenen Sohn zu, dass er einsieht, dass er Schwachsinn gemacht hat. Er rennt ihm nicht hinterher. Das ist die Würde des Menschen, dass mir auch jemand etwas zutraut.
Bruder David: Wunderschön ist der Satz in der Geschichte vom verlorenen Sohn: Die Umkehr kam in demselben Augenblick, wo er zu sich selbst kam (Lk 15,11-32).
3.8. Was meinen wir mit Himmel?
(01:28:17) Matthias Beck: Mit Himmel meinen wir innere Stimmigkeit, inneren Frieden, mit dem göttlichen Willen im Einklang sein, Freude, Enthusiasmus ‒ das Wort kommt vom Griechischen «en theos», «in Gott sein». Himmel ist kein Ort, wir unterscheiden im Englischen zwischen «sky» und «heaven». Himmel und Hölle sind schon hier. Wenn ich hier stimmig lebe, wird sich das durch den Tod hindurch auch nicht so sehr verändern. Wenn ich hier schon die Hölle habe, weiß ich auch nicht, ob das weiterbesteht, keine Ahnung. In den Himmel komme ich, wenn ich richtig lebe: die vier Kardinaltugenden: Klugheit, Gerechtigkeit ‒ Tapferkeit ‒ Maß und die drei göttlichen Tugenden: Glaube ‒ Hoffnung ‒ Liebe: Nächstenliebe, dem andern wohlwollen: Es ist doch viel schöner mit dem Andern im Frieden zu leben als im Krieg. Innerer Frieden ist ein Stück Himmel schon auf Erden und das wird sich durch den Tod hindurch fortsetzen.
3.9. Wie uns «dankbar leben» heil und gesund macht
(01:30:12) Matthias Beck fragt Bruder David: Bist du glücklich?
Bruder David antwortet:
«Glücklich nicht immer,
aber auch in meinen schwierigsten Augenblicken
ist das Tiefste eine Freude, die einfach
ein Aspekt meines Vertrauens ist,
dass Gott, das große Geheimnis mich liebt.»
Bruder David schließt mit dem Schlüsselwort Gelegenheit: Man kann für vieles nicht dankbar sein, aber man kann in jedem Augenblick dankbar sein, denn auch wenn das Leben uns in diesem Augenblick etwas schenkt, wofür wir nicht dankbar sein können, gibt es uns zugleich immer eine Gelegenheit, auch wenn das die Gelegenheit ist zu leiden, mitzuleiden ‒ das ist Lebendigkeit, das gehört zum Leben dazu.
«Dankbar ist man nie für das Geschenk,
sondern für die Gelegenheit,
etwas daraus zu machen:
Wir erweisen uns dankbar,
indem wir etwas daraus machen.»
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[1] Die Themen dieses Gesprächs hat Bruder David grundlegend, kohärent und religionsübergreifend dargestellt in seinem Vortrag anlässlich der Vorstellung seines Buches Credo: Ein Glaube, der alle verbindet am 27. Oktober 2010 in der Ludwigskirche Freiburg i. Br.; siehe das Audio zusammen mit den Vorträgen in München und Wien in Credo ‒ Ein Glaube, der alle verbindet und die Mitschrift.
Alle drei Vorträge haben eine gemeinsame inhaltliche Gliederung:
1. Was meinen wir mit einem Glauben, der alle verbindet?
2. Wer sind ‹alle›?
3. Wie können wir diese gläubige Verbundenheit leben? Bruder David schlägt vor:
Furchtloser Umgang mit andern;
Stille und Verständnis für Dichtung;
Dankbar leben im Jetzt;
Unsere Religion neu durchdenken:
Auf der Suche nach einem heilen und heilenden Gottesverständnis
im Buch Mystik ‒ Spiritualität der Zukunft (2005), 76-83.
[2] Richard Baker Roshi (geboren 1936) ist ein US-amerikanischer Zen-Lehrer in de Tradition von Dongshan (9. Jh.) und Shunryū Suzuki Roshi. Baker Roshi hat 1971 die Dharma-Nachfolge von Suzuki Roshi angetreten und vermittelt seitdem die buddhistische Lehre im Westen.
[3] Meister Eckhart: Werke I, hrsg. und kommentiert von Niklaus Largier (= Bibliothek des Mittelalters, Bd. 20), Frankfurt a. M., Deutscher Klassiker Verlag 1993: Predigt 5B, 71
[4] Ebd. Predigt 54B, 585
[5] Ebd. Werke II, (= Bibliothek des Mittelalters, Bd. 21): Predigt 83, 195

